Wen, Deqing

Traces IV / Two Birds in one Cage / Ink Splashing I / Traces II / Spring, River and Flowers on a Moonlit Night

Verlag/Label: Musique Suisses MGB CTS-M 116
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2010/01 , Seite 85

Musikalische Wertung: 4
Technische Wertung: 4
Repertoirewert: 4
Booklet: 4
Gesamtwertung: 4

 

Wie so viele asiatische Komponisten ist auch der in Südchina geboren Dequing Wen (*1958) zwangsläufig ein Grenzgänger zwischen den Kulturen. Der schon lange in Genf lebende und gelegentlich in Shanghai lehrende Komponist ist von der chinesischen Kultur und Philosophie ebenso beeinflusst wie von den komplexen Klangtechniken der westlichen Moderne. Wens kompositorische Brückenschläge zwischen Europa und Asien kommen jedoch, ganz wie beim großen Isang Yun, ohne spirituellen Kitsch und Weltmusik-Klischees aus.
Die intensive Auseinandersetzung mit den musikalischen Traditionen seiner Heimat zeigt sich nicht nur vordergründig darin, dass Wen gerne asiatische Instrumente und Spieltechniken im europäischen Instrumentarium verwendet. Vor allem Ausdrucksformen der chinesischen Kalligrafie finden bei Wen ihre Übersetzung in artikulationsreiche Instrumentalwerke, wo die Ein- und Ausschwingvorgänge der Tonerzeugung mit all ihren Geräuschwerten wesentliche Bedeutung erlangen.
«Mit einem weißen Blatt konfrontiert, fühle ich große Ruhe. Hinter der Leere steht eine Fülle. Wie der große Poet Bai Juyi sagt: Pausen haben mehr Energie als Noten», erläutert Wen die kontemplativen Grundbefindlichkeiten seines Schaffens. Doch wer nun glaubt, mit der inzwischen reichlich bemühten Dialektik von Klang und Stille/Pause konfrontiert zu werden, der irrt. Wens hier von den verschiedensten Schweizer Interpreten sehr eloquent eingespielte Instrumentalkompositionen sind randvoll mit Ereignis und von einer Unruhe geprägt, die ausnehmend abendländisch daherkommt.
Traces IV (2004), Teil einer ganzen Serie, die den unterschiedlichen Spielformen der Kalligrafie gewidmet ist, präsentiert sich als Konzert für das chinesische Blasinstrument Suo-na, das mit burlesken Zügen und dramatischer Vehemenz den flüchtigen und wilden Aspekten der Schriftkunst auf der Spur ist. Solist Guo Yazhi entfacht mit seinem Artikulationsreichtum da­bei im Orchester vielschichtige Klangbewegungen und eindrucksvolle Verdichtungen.
Ein ganz feines, wie zum Zer­reißen gespanntes Lineament zeich­­net Traces II (1996) mit strengen, am «Ma­gischen Quadrat» orientierten Konstruktionsprinzipien. Hier ist es Wen bei allem Wechsel der klanglichen Aggregatzustände ganz um einen taoistischen Ausgleich der Gegensätze zu tun. Dennoch (zumindest für ein westliches Ohr) steckt eine Menge Abgründigkeit in dieser ornamentalen Expressivität mit ihren wirren Tonknäueln, ins Nichts abreißenden Cres­cendi und tumultuarischen Klang-Akkumulationen am Schluss.
Als impressionistische Nocturne beginnt Spring, River and Flowers on a Moonlit Night (2006), ein Konzert für Kammerorchester und das chi­nesische Zupfinstrument Pipa nach einem Gedicht von Zhang Ruoxu, dessen morbide Grundstimmung mit störrischen Monologen des Solisten konfrontiert wird. Wens erfrischend persönliche Synthese aus asiatischen Klangvorstellungen und europäischer Expression wird hier noch einmal exemplarisch vor Ohren geführt.

Dirk Wieschollek