Jost, Christian

Violinkonzert «TiefenRausch» / CocoonSymphony

Verlag/Label: Capriccio 5118
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/01 , Seite 78

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Booklet: 2

Christian Jost (Jahrgang 1963) beschreibt seine Musik selbst als tönende Energieverläufe. Kurzatmigkeit und Erstarrungs­zustände sind seiner pulsierenden Klangwelt ebenso fremd wie narrative Enthaltsamkeit. Im Gegenteil, Jost ist ein Erzähler in Tönen. Doch schafft er keine Abbilder, keine Balladen des äußeren Lebens, sondern klingende Parallelwelten: Reisen ins Innere, voll suggestiver Gestik, melodisch ansprechend, rhythmisch konturiert und dramaturgisch «zielführend» – Bewusstseinsströme, die aus archaischen oder mythischen Tiefen aufzusteigen scheinen.
Wie seine imaginativen Werktitel andeuten, entwickelt Jost seine Werke aus klanglichen Keimzellen oder assoziativen Kernen, denen oft metaphorische Vorstellungen zugrunde liegen: Figuren und Motive antiker Mythologie, kosmische Erscheinungen, Landschaften der Seele – man denke an Werke wie die Phoenix-Trilogie (2001), Cosmodromion für Schlagzeug und Orchester (2001/ 02), CocoonSymphony – Fünf Stationen einer Reise in das Innere für großes Orchester (2003), Heart of Darkness – Odyssee für Klarinette und Orchester (2007) oder das schon 1997 entstandene Violinkonzert TiefenRausch in einem Satz. Nicht zu vergessen sein musikdramatisches Œuvre.
Dass Jost die Essener Philharmoniker für seine Tauchgänge ins Meer des Unterbewussten, des Schlafs und der Träume gewann, darf als Glücksfall gelten. Mit dem Komponisten als Anwalt der eigenen Partituren, die er am Dirigierpult gleichsam aus der Vogelperspektive vermittelt, wird dem Hörer ein authentisches Klangbild zuteil, eine Werkdeutung aus erster Hand. Im Falle des Violinkonzerts kommt hinzu, dass der Komponist in Viviane Hagner eine Treuhänderin im wahrsten Sinne des Wortes fand. Nicht nur, dass sie selbst die kleinste Note mit Sinn füllt. Auch ihre Pausen sind Musik: Momente beredten Stilleseins. Nur wer eine Interpretin ihres Geblüts auf seiner Seite hat, darf es wagen, ein Violinkonzert mit ei­nem nachdenklich-elegischen Solo einzuleiten: Trugbild einer «Isle of Bliss», wie sie der finnische Komponist Eino­juhani Rautavaara beschwor. Als Insel der Seligen oder Orplid – das Land, das ferne leuchtet – schwebt die fremde Schönheit die­ses konzertanten Tiefenrauschs über den Wassern des konzertanten Wechselspiels.
Im Übrigen ist Jost ein Meister des Übergangs: des fließenden Wechsels von einer Szene, einem Zustand zum nächs­ten. Was sich besonders in seiner fünfteiligen CocoonSymphony zeigt, deren «Übergänglichkeit» sich schon äußerlich in der Zusammenschreibung des Titels und der mehrfachen Anweisung attacca kundtut. Auch sprechen die Satzüberschriften der Fünf Stationen einer Reise in das Innere für sich: «Zustand» – «Flucht» – «Freiräume» – «R.E.M.» – «Erschütterung». Wobei «R.E.M.» für Red Eye Movement stehen dürfte: die Schlafphase lebhaften Träumens, dem manchmal ein jähes Erwachen folgt.
Der Titel Kokon meine «mehr ein Zurückgeworfensein auf sich selbst und all das, was damit einhergeht», antwortet Jost seinem nicht sonderlich geistreichen Interviewer im Beiheft. Das kriegerische Paukengetümmel und die Flucht flatternder (Streicher-)Seelen öffnet indes nicht nur «Freiräume». Sie rühren auch Abgründiges auf, das sich in schattenhaften Basswelten (Choralfragmenten?) offenbart und in eine gewaltige Erschütterung entlädt. Ein esoterisches Programm, das fesselnde Klangprozesse in Gang setzt und bewegt.

Lutz Lesle