Schneider, Frank

Von gestern auf heute. Schriften zur neuen Musik

hg. von Jürgen Otten und Stefan Fricke

Verlag/Label: Pfau, Saarbrücken 2012 | 403 Seiten
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/02 , Seite 90

Empfehlung: Die Lektüre sollte mit dem abschließenden «Gespräch» beginnen, das die Herausgeber mit dem Autor geführt haben. Es ist gleichsam ein Rückspiegel, der die schöpferischen Impulse der 1970er und 1980er Jahre in der DDR, in denen Frank Schneider die meisten der hier versammelten Texte verfasst hat, abbildet. Dieses Gespräch ist zugleich ein Brennspiegel, der mit seinem Fokus die ideologischen Verwerfungen und die angemaßte Deutungshoheit der Partei in Sachen Kunst schonungslos ans Licht und zur Sprache bringt. Die Parteinahme des Autors gilt «jener Gruppe avantgardistisch gesonnener Komponisten, die mit ihrer Musik Idee und Praxis des realen Sozialismus unterwandern wollten».
Erprobt in der überlebensnotwendigen Selbstzensur, wusste der Musikologe sehr wohl, «wie weit man dabei zu weit gehen durfte», wenn man solche Unterwanderung solidarisch begleiten wollte. Mit Eduard Hanslick betrachtet Schneider Musik als «individuelles Resultat kompositorischer Arbeit des Geistes in geistfähigem Material», und so darf man in dem selbstgestellten Auftrag, die avancierte Musik seiner Zeit vor dem Ungeist des kulturpolitischen Oktroi und seiner einengenden Vorgaben in Schutz zu nehmen, den eigentlichen Antrieb für die vorliegenden Texte sehen. Sie sind beredte Zeugnisse solcher «Grenzverletzung» eines Unangepassten. Ihnen ist aber auch das Misstrauen gegenüber «objektiven Wahrheiten über klingende Phänomene» eingeschrieben. «Um Wahrheit geht es, denke ich, in den Künsten auf diese Weise gar nicht […]. Vor allem geht es um Plausibilität, um interessante, nachdenkliche Verlautbarungen.»
Sie gelten im einleitenden Traktat «Aneignung und Gestaltung» dem kom­plexen Verhältnis von Material und Technik, sodann u. a. der Tradition im zeitgenössischen Schaffen und der Frage nach dem Komponisten im Geschichtsprozess. Der zweite Teil zeigt Schneider als profunden Kenner und engagierten Anwalt der Wiener Schule, deren Errungenschaften er dem Leser in brillanten Analysen und mit subtilen Einsichten erschließt.
Von Debussy bis Nono spannt sich der Bogen ästhetischer Strömungen, die im dritten Teil die vielgestaltige musikalische Physiognomie des 20. Jahrhunderts komplettieren. Sie wäre unvollständig ohne das Œuvre von Richard Strauss, dessen Musik, wie Schneider ebenso bissig-kritisch wie augenzwinkernd vermerkt, als gesellschaftlich defizitäre «das Leben durchheitern» sollte.
Anders das Schaffen von Georg Katzer und Friedrich Goldmann, Reiner Bredemeyer und Friedrich Schenker, deren Musik abschließend als klingende Entität gewürdigt wie auch auf ihren Realismusgehalt befragt wird. Er bestehe darin, dass die Musik «die Welt nicht leichter nimmt, als sie heute [1989!] besonders hierzulande ist».
Frank Schneider ist einer von den Davidsbündlern, die den ideologischen Philistern den Marsch geblasen haben. Seine Texte sind weder Mauerschau eines Unbeteiligten noch Trauerarbeit eines Hinterbliebenen, sondern der engagierte Rapport eines Authentischen, der sich nicht verbiegen ließ. Zu hoffen bleibt, dass seine Lesart der Musik aus der DDR uns sensibler macht für das noch immer Unabgegoltene künstlerischen Schaffens aus finsteren Zeiten.

Peter Becker