Britten, Benjamin

War Requiem

Verlag/Label: LSO Live 0719 2SACD
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/05 , Seite 85

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 3
Booklet: 4

«Alles, was ein Dichter heute tun kann, ist warnen.» Diese Worte des englischen Poeten Wilfred Owen, der im Ersten Weltkrieg fiel und dessen Verse Benjamin Britten in seinem epochalen War Requiem vertonte, haben auch heute noch ihre Gültigkeit – vielleicht mehr denn je in einer nach wie vor von Krieg und Ungerechtigkeit geprägten Welt. Genau fünfzig Jahre ist es jetzt her, dass dieses Werk uraufgeführt wurde: Am 30. Mai 1962 erklang das War Requiem erstmals, unter Brittens Leitung, in der Kathedrale von Coventry. Zur Feier des Wiederaufbaus dieser von deutschen Bombern im Zweiten Weltkrieg zerstörten Kirche hatte Britten sein Werk komponiert. Es war das London Symphony Orchestra, das damals die Uraufführung bestritt, und eben dieser Klangkörper sorgte im Oktober 2011 im Londoner Barbican Centre für die Jubiläumsaufführung. Am Pult sollte ursprünglich Colin Davis stehen, doch kurzfristig sprang Gianandrea Noseda ein. Wie wenig Nosedas Dirigat einen Lückenbüßer darstellte, zeigt sich daran, dass die Interpretation nun als SACD-Album vorliegt.
Nach Benjamin Brittens eigener Aufnahme (Decca) – mit den für die Uraufführung vorgesehenen Gesangssolisten und ebenfalls dem London Symphony Orchestra – hat es jede weitere Einspielung des War Requiem schwer, denn dem Komponisten ist es gelungen, sowohl das dem Werk innewohnende persönliche Engagement als auch die universale Grundaussage auf unvergleichlich packende und intensive Weise in Klang zu bannen. Noseda kommt jedoch der Intensität, die der Komponist zu generieren wusste, ziemlich nahe – nicht zuletzt, indem er die dramatischen, beinahe opernhaften Elemente, die das Werk über weite Strecken dominieren, in den Vordergrund stellt und die Extremwerte der Partitur ausreizt. Auf diese Weise gewinnt nicht nur der Gedenkcharakter des Requiems, sondern auch die unverstellte Wut gegen Krieg und Gewalt unmittelbare interpretatorische Präsenz: giftiger, aggressiver klingen etwa das «Dies irae» und das «Libera me» nur selten. Eine glückliche Hand bewies man auch in der Auswahl der Solisten. Insbesondere der Tenor Ian Bostridge lässt seinen Part durch eine ungewöhnliche Kombination von persönlichem, hoch emotionalem Engagement und quasi körperloser Entrücktheit zum Erlebnis werden.
Somit liegt eine profilierte Interpretation vor, die zumindest auf rein musikalischer Ebene eine durchaus lohnenswerte Alternative zur «klassischen» Britten-Einspielung darstellt. Klanglich jedoch macht die Aufnahme nicht restlos glücklich. Die heikle Akustik des Barbican Centre ist allgemein bekannt, und es ist der Tontechnik leider nur unzureichend gelungen, die verschiedenen Klangebenen der Partitur – großes Orchester, Kammerorchester, Chor, Kinderchor, Solisten und Orgel – adäquat abzubilden und gegeneinander abzusetzen. Insbesondere der Chor klingt oft wie hinter einem Teppich versteckt, wodurch etwa die beinahe aleatorischen «Ad libitum»-Passagen des «Sanctus» lediglich als verwaschener Klangbrei aus den Lautsprechern tönen. Sehr schade.

Thomas Schulz