Wittener Tage für neue Kammermusik 2010

CD Dokumentation live | Werke von Ondrej Adámek, Friedrich Cerha, Jörg Widmann, Matthias Pintscher, Enno Poppe, Georg Friedrich Haas, Roland Dahinden, Malin Bång und Adriana Hölszky

Verlag/Label: WD 2010 (2 CDs)
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2012/01 , Seite 88

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Booklet: 4

Der eine geht mit Aplomb zur Sache: Mit Aufheulgeräuschen, einem Staubsauger abgelauscht und ins Instrumentale versetzt, lässt Ondrej Adámek seine Komposition «B-low Up» beginnen, gefolgt von oft heftigen Glissandi und wellenartig schwingenden Klängen in grellen Farben. Der andere, Friedrich Cerha, entwickelt dagegen eine Art gelassenen Altersstil: Abgeklärt geht es in seinem «Bruchstück, geträumt» zu, einer Studie in ruhigen, leisen Klängen, die «ein einziges hohes Lob der Langsamkeit» bildet. Direkt nebeneinander stehen diese beiden ganz unterschiedlichen Beiträge zum Jahrgang 2010 der Wittener Tage für Neue Kammermusik, die wie fast alle übrigen Nummern dieser Doppel-CD als Kompositionsaufträge entstanden und hier in Mitschnitten ihrer Uraufführungen vorliegen.
Jörg Widmann ist mit seiner Étude VI für Violine solo vertreten, deren Titel «Wiegenlied für Salome» als Widmung, weniger als inhaltliche Beschreibung zu verstehen ist. Inspiriert vom Geigenspiel seiner Schwester macht Widmann diese Etüde wie ihre Vorgängerinnen zur Suche nach neuen Klängen und Spielmöglichkeiten auf dem Instrument.
Vom kosmischen Phänomen des sich gegenseitigen Verdunkelns von Himmelskörpern geht Matthias Pintscher beim Konzept seines Stücks «sonic eclipse» aus, dass in seinem dritten Teil («Occultation») die ersten beiden überlagert und dabei klanglich Heterogenes verschmelzen lässt. «Speicher 1» nennt Enno Poppe eine Ensemblekomposition, die auf einer Skala von Dreivierteltönen basiert, die jedoch in der Realisation als instabile Tonorte fungieren. Doppel­bödig mit «AUS.WEG» hat Georg Friedrich Haas eine seiner neueren Arbeiten betitelt. Ob seine auf Dauern-Reihen basierende Musik nun eine rettende Fluchtmöglichkeit meint oder ob ein deprimierendes «Aus! Weg!» mitschwingt, bleibt in der Schwebe.
Zugleich von Musik wie der bildenden Kunst Jackson Pollocks in­spiriert zeigt sich Roland Dahindens «Action for Jackson», die einen Jazz-Standard von Eric Dolphy der Bassklarinette überantwortet, aber ein «fehlerhaftes» Bild des Originals erzeugt. Vom Begriff «Reibung» geht dann Malin Bångs «epic abrasion» aus, der in doppeltem Sinn erscheint: bei der Tonerzeugung, aber auch im gruppendynamischen Prozess der Musiker, die einander aggressiv ins Wort fallen.
Auch vokale Kammermusik ist auf der CD zu erleben: Adriana Hölszkys Stück «Hunde des Orion» für acht Stimmen, von Sternbildern und antiker Mythologie inspiriert, wird zur faszinierenden Mixtur aus Tönen, sirenenhaften Glissandi, Schnalz-, und Zischlauten. Fast zum Schock gerät danach die Rückkehr zu traditioneller Wort-Vertonung in Cerhas «Eine Art Chansons»: basierend auf sprachspielerischen Texten Ernst Jandls, mit deren musikalischer Umsetzung – so der Komponist – er sich auf das «gefährliche Terrain der ‹Kleinkunst›» begeben habe.

Gerhard Dietel