Wittener Tage für neue Kammermusik 2011
7 Videos zu Installationen und Landschaftskunst von Manos Tsangaris, Daniel Ott, Peter Ablinger, Stephan Froleyks und Kirsten Reese | 90 min.
Die Klanginstallationen, die bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik schon seit Langem einen Programmpunkt bilden, haben sich 2011 aus der unmittelbaren räumlichen Umgebung des Festivals gelöst und sind ins Umland ausgeschwärmt. Als Achse diente dabei die Ruhr, der Fluss, nach dem die alte Industrielandschaft, zu der auch Witten gehört, benannt ist. Die Arbeiten von fünf Autoren/Komponisten sind nun erstmals auf Video festgehalten und der traditionellen Doppel-CD der Wittener Tage die leider nur auf verschlungenen Wegen erhältlich ist (siehe Infokasten) als DVD beigelegt worden.
Hauptstück der sieben Filmsequenzen mit ihren ungemein stimmungsvollen Bildern ist Schwalbe, der halbstündige Beitrag von Manos Tsangaris, benannt nach dem kleinen Ausflugsschiff, auf dem ein paar Musiker, das Publikum und das Filmteam eine Rundfahrt auf dem Wasser unternehmen. Auf dem geteilten Bildschirm sieht man links und rechts die Ufer vorbeigleiten, mit zufälligen Spaziergängern, aber auch einigen Musikern und Schauspielern, die im Moment der Vorbeifahrt in Aktion treten. Ein Jogger begleitet das Schiff eine lange Wegstrecke. Eine Stimme aus dem Off sie gehört der Schauspielerin Maria Meckel, die man am Flussufer ein paar Mal stehen und winken sieht gibt einige Stichworte zu dem, was man sieht und hört. Die Wirklichkeitsebenen überschneiden sich, und mit dem Sprechtext tritt auch eine literarische Ebene dazu. Das Resultat ist eine sanft-eindringliche Mischung von Bild, Text, musikalischen und Umweltgeräuschen. Dokumentation und Imagination, sinnliche Wahrnehmung und Reflexion fließen wundersam ineinander und erzeugen eine fast surreale Erlebnislandschaft. Ein Aspekt, der den Teilnehmern auf der Fahrt mit der «Schwalbe» kaum aufgefallen sein dürfte und erst im Medium des Films zustande kommt.
Auch die anderen Beiträge stehen mit dem Fluss direkt oder indirekt in Beziehung. Peter Ablinger lässt Wassertropfen auf Glasröhren fallen und projiziert den Klang mittels Mikrofon und Lautsprecher auf die Wiese hinaus; dort steht eine begehbare Skulptur aus weißen Tüchern, die an Wäscheleinen aufgehängt sind und im Wind flattern. Dieses Video hat einen ebenso dokumentarischen Charakter wie dasjenige über den Beitrag von Kirsten Reese, die eine Burgruine am Rande der Ruhr über Lautsprecher mit dem Rauschen des Wassers beschallt; doch hier erhält das Endprodukt durch die einfallsreiche Wahl der Bilder und die Kameraführung (Kenjami Melina Huppertz) eine ganz eigene Atmosphäre.
Ähnliches geschieht beim Beitrag von Stephan Froleyks, der mit dem veränderbaren Klang von Lautsprechern arbeitet, die an einer Art Angelrute in das Wasser getaucht werden. Indem der Originalton zum Soundtrack gemacht wird, der mit den meist statischen Bildern von der Flusslandschaft und mit den Naturgeräuschen neu gemischt wird, entsteht ein audiovisuelles Produkt von eigenem Zuschnitt.
Eine über das Dokumentarische hinausgehende, eigenständige Wirkung entfalten die Aufnahmen in den beiden Sequenzen von Daniel Ott. Der Fluss, der bei der Herbeder Schleuse rauschend über das Wehr fällt und dabei eine komplexe serielle Bildstruktur erzeugt, wird hier in Bild und Ton unmittelbar zum ästhetischen Gegenstand. Die dazugemischten Geräusche von Schlagzeug und E-Gitarre wirken zunächst als bloße Zugabe, doch wenn am Schluss die Gitarristen auf einem Boot davonfahren, werden sie dramaturgisch in den Ablauf integriert. Indem Ott in einer zweiten Sequenz dasselbe Bild- und Tonmaterial mit Ausschnitten aus einem Ölgemälde des 18. Jahrhunderts überblendet, schafft er historische Tiefe. Auch in diesem Fall unterscheidet sich das mediale Produkt fundamental von der Live-Aufführung sie fand im Saal vor dem Originalgemälde statt, auf welches das Video projiziert wurde und schafft sich eine Realität sui generis.
Aus allen Beiträgen ergibt sich eine eigentümliche Poetisierung der über die Jahrhunderte verbrauchten und missbrauchten Landschaft rings um das Ruhrflüsschen. Den Schaumschlieren auf dem Wasser, den abgewirtschafteten Ufern und den banalen architektonischen Spuren der Vergangenheit wächst unverhofft eine ästhetische Würde zu, ganz im Sinne der Baudelaireschen Ästhetik von der Schönheit im Hässlichen. Der Blick auf diesen kleinen Ausschnitt der epochalen Landschaft Ruhrgebiet ist ungewöhnlich. Es ist der mit den Mitteln der Kunst unternommene Versuch einer Versöhnung des Menschen mit der Natur, die er vergewaltigt hat und die sich trotz allem als unzerstörbar erweist.
Angesichts der heutigen Situation in NRW wäre Verklärung aber fehl am Platz. Da auch die Stadt Witten zahlungsunfähig ist und unter Kuratel steht, wird sie ihren Anteil am Budget der Kammermusiktage in Zukunft wohl nicht mehr leisten können. So ist zu befürchten, dass diese DVD nicht nur den vorläufigen Höhepunkt, sondern auch das Ende der Wittener Outdoor-Veranstaltungen dokumentiert. Die Zerstörung geht wohl in neuer Form weiter: Das Wasser wird weiter über das Wehr bei Herbede rauschen, doch die Kunst sitzt dann erst einmal auf dem Trockenen.
Max Nyffeler