Stockhausen, Karlheinz / Berio, Luciano

zeit(t)räume

Verlag/Label: Wergo WER 67492
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 2013/04 , Seite 80

Musikalische Wertung: 5
Technische Wertung: 4
Booklet: 4

Luciano Berio und Karlheinz Stockhausen waren Zeitgenossen, aber nicht eben künstlerische Weggefährten, auch wenn sie sich bei den Darmstädter
Ferienkursen für Neue Musik begegneten. So ist es durchaus nicht selbstverständlich, wenn auf der vorliegenden CD-Einspielung Werke der beiden nebeneinandergestellt werden. Doch wie das oft im Rückblick aus wachsender zeitlicher Entfernung geschieht: Künstlerische Unterschiede von gestern ebnen sich ein. Dass die Distanz zwischen der Musik Stockhausens und Berios auf der vorliegenden CD vergleichsweise gering wirkt, mag zum Teil an der Werkauswahl liegen, zum Teil auch an deren Interpretation.
In ihrem solistischen Beitrag gibt die Pianistin Jovita Zähl Stockhausens 1961 vollendetem Klavierstück IX ungewohnte Kontur: Zähls Vortrag lässt die konstruktive Seite der Komposition gegenüber der semantischen zurücktreten, mit Rückbindung bis zum romantischen Klavierstück. Weniger rational als emotional ist der Zugriff, spannende Pausen werden zum Nachhall wie zur Antizipation einer Musik, die klingendes Seelenprotokoll zu sein scheint.
Freilich: Stockhausens Musik wirkt nach wie vor sperriger als die auf der CD anschließenden Quattro canzoni popolari Berios, bei denen Zähl die Sopra­nistin Claudia Böttcher begleitet. Denn mit diesen Vertonungen älterer sizilianischer Dichtungen versuchte Berio gezielt, «volkstümliches Musikmachen mit unserer Musik», das heißt der neuen Musik, zu verbinden.
Die andere den zeitgenössischen Ausdrucksmitteln zugewandte Seite von Berios Schaffen präsentiert Böttcher mit der einst für Berios Gattin Cathy Berberian geschriebenen Sequenza III und schafft es auf ihre Weise, diese Parforcejagd durch sämtliche Artikulationsweisen der menschlichen Stimme mit Leben zu erfüllen: in flexiblem Wechsel zwischen Singen und Sprechen, Lachen und Röcheln, Schmeicheln und Aufbegehren. Bravourös lässt Böttcher sangliches Legato mit federleicht getupften Tönen wechseln, ruhige Entfaltungen mit jäher Attacke und Zuständen der Exaltation.
Zum Zentralwerk, das zeitlich die Hälfte der Gesamtspielzeit der CD ausfüllt, wird Stockhausens Tierkreis. Dessen zwölf Melodien, welche der Komponist ursprünglich für Spieluhren schuf, erklingen hier in einer Version für Klavier und Sopran mit Texten, die Stockhausen der Musik später unterlegte.
Jovita Zähl und Claudia Böttcher entwickeln ihr eigenes raffiniertes Arrangement, das die oft rhythmisch vertrackten Melodien Stockhausens jeweils mehrfach ertönen lässt: teils mit deutschem, teils mit englischem Text, teils rein pianistisch als Vor-, Zwischen- und Nachspiel. Die Pianistin imitiert gezielt ursprünglichen Spieluhrklang, was sie jedoch nicht hindert, dunkle akkordische Grundierungen hinzuzufügen oder bei gezupften Tönen den Innenraum des Flügels einzubeziehen, der zudem sporadisch als Hallraum für die Sopranstimme dient. Der zyklischen Idee Stockhausens entsprechend lassen die Interpretinnen die anfängliche «Steinbock»-Melodie abschließend nochmals anklingen: als kurze, schnell im Fade-out verschwindende Reminiszenz.

Gerhard Dietel